seid ihr auch, wie ich, der Auffassung, dass Cthulhu eine Erfahrung sein kann, die über normale Pen and Paper-Erfahrung hinausgehen kann und sollte?
Als ich jung war und das erste Mal mit Lovecraft in Berührung kam, dachte ich das auch noch. "Wow, so occult, much evil". Als sich dann die Realität nach und nach in meine von Heavy Metal Plattencovern und kindlicher naivität geprägte Vorstellung von der Welt schob, war damit schnell Schluss. Manchmal wünsche ich mir diese Zeiten zurück, aber von der heutigen Warte kann ich nur sagen, dass Cthulhu nicht mehr oder weniger intensive Rollenspiel-Erfahrungen beschert als jedes andere Spiel in diesem Genre.
Der Ansatz Cthulhus ist meiner Ansicht nach ein Kuriosum in der etablierten Rollenspiellandschaft: nicht nur wird auf übermäßigen Fantasykitsch und Sci-Fi-Epos verzichtet und stattdessen, eine historisch glaubwürdige Welt gezeichnet, die sehr stark mit Stimmungen und elliptischen Formulierungen spielt, sondern darüber hinaus stehen hier Spieler im Mittelpunkt, die gänzlich ohnmächtig sind und nur in Ausnahmefällen ihr Leben durch einen heroischen Sieg gegen den Feind erretten können werden.
Verwechsele da mal nicht die Geschichten Lovecraft's mit dem Rollenspiel. Und selbst dann: Lovecraft's Figuren sind eine ausgeburt kitschigster Fanatsy und Sci-Fi-Versatzstücke. Von haufenweise maritimen Tentakelmonstern über Außeridische mit Elektroschockern und Gehirnzylindern ist so ziemlich alles dabei, was einen Ed Wood zu höchster B-Movie-Form auflaufen ließe. Selbst vor der Reanimation Toter wird da als drastisches Element nicht zurückgeschreckt. Das Rollenspiel selber geht hier noch ein ganzes Stück weiter. In seiner Katalogisierung dieser häufig absurd komischen Pulp-Wesen kommt das gesamte Trash-Potential Lovecraft's zum Ausdruck. Ganz davon abgesehen, dass die Meisten der offiziellen Abenteuer mit einem Triumph der Charaktere enden, ist die angebliche Unbesiegbarkeit des Mythos durch dieses Spielsystem eben das: ein Mythos. Die Mehrzahl der im Malleus Monstrorum vorkommenden Kreaturen (Götter außen vor) lassen sich prima mit den zahlreichen, im Waffenhandbuch aufgelisteten Mordwerkzeugen umpusten. Idealerweise mittels einer vollautomatischen Schrotflinte, da diese gleich zwei Regel-Exploits ausnutzt und kombiniert. Da ist es relativ easy, sich durch Horden Tiefer Wesen durchzuschnetzeln und am Ende dann noch Papa Dagon selber den fischigen Leib aufzuschlagen. Mehr Kitsch geht doch nun wirklich nicht!
Cthulhu bietet Freunden von Rechenschiebern und Excel-Tabellen, die gerne jegliche Regel spitzfindig zu ihrem Vorteil auslegen und auch am letzten Wert ihres magischen Schwertes feilen wollen, nicht allzu viel, weshalb man die klaren Stärken des Spiels, meiner Meinung nach, so stark in den Vordergrund schieben muss, wie möglich, um die Schwächen, die dieses System womöglich hat, zu weit in den Hintergrund schiebt, dass sie nicht mehr auffallen.
Da gibt es sicherlich Systeme, die das besser machen, aber das BRP ist mit seinen zahllosen Werten und seinen mathematischen Bezügen auch eine gute Grundlage für maximal optimierte Charaktere. Ob das nun die fokussierung von Werten auf besonders wichtige Fertigkeiten ist, das Ausnutzen der Erhöhung von BI durch das Alter und die Ignoranz unwichtiger Attribute wie ER oder die Wahl der richtigen Waffen (in den 1920ern der Drilling, in den 1990ern die vollautomatische Schrotflinte): Cthulhu bietet zahllose optionen für Regelfuchser. Es ist halt kein Erzählspiel.
Cthulhu ist ein Schauspielprojekt, dass Charakterspiel und Szennenbeschreibung gleichermaßen fordert und damit viele vielleicht auch überfordert. Ich selber hatte und habe noch immer oft Schwierigkeiten, die richtige Stimmung rüberzubringen, die mir gerade im Kopf herumschwirrt; mit Worten so zu spielen, dass sie gerade genug verraten, um den Spielern eine Ahnung von dem zu geben, auf was sie treffen, aber nicht so viel, dass sie ein wirkliches Bild vor Augen haben.
Das ist vielleicht das, was mancher gerne draus macht, aber im Sinne der Erfinder ist es nicht. Cthulhu ist "Fantasy Role-Playing in the Worlds of H.P. Lovecraft". So steht es auf dem Cover des Originals. Es geht darum, die abstrus-tentakeligen Monster wegzuschnetzeln, Mumien in dunklen Tunneln auszuweichen und mit Hilfe von Zauberritualen böse Kulte aufzuhalten. Klingt nach D&D? Ist es auch!
Dieses ganze Schauspielegschwurbel hat man sich dann irgendwann man in der deutschen Community zusammengebastelt, als gerade im Fahrwasser der WoD das Erzählspiel die Massen begeisterte.
Tatsächlich gab es mal eine Zeit, in der die Cthulhu-Publikationen nach historischer Akkuratesse strebten, aber auch diese ist nur zweitrangig. Ich zitiere hierfür Heiko Gill, den aktuellen Chefredakteur:
Gerade wenn man ein Abenteuer daran aufhängen will, sollte einem die historische realität letztlich egal sein, sobald sie das behindert.
Wie ich immer gern erinnere: "Die Monster waren auch nicht da. Ehrlich nicht!"
http://www.foren.peg...uin-in-ägypten/
Letztendlich ist natürlich jeder sein eigener Herr der heimischen Spielrunde, aber woher diese ganze Überhöhung von Cthulhu zu einem angeblich historisch korrekten Schauspiel-Exzess kommt, kann ich nicht wirklich aus offiziellen Quellen ableiten.
Für alle, die ähnliche Probleme auch haben, ist dieser Thread. Hier sollen Spielleiter und solche, die es werden wollen, anderen unter die Arme greifen, wenn es darum geht, das Grauen in Cthulhu in die Herzen unserer gruselempfänglichen Mitspieler zu treiben.
In meinen Augen ist man besser damit beraten, gemeinsam ein spannendes Spiel zu erleben, als diesen ganzen Atmosphäre-Firlefanz zu hoch anzusetzen. Sicher ist ein bisschen Musik und das richtige Wort zur richtigen Zeit ein schönes Detail, aber all das kann ein langweiliges Spiel nicht wett machen. Jeder Spielleiter, der seine Spieler zum Gruseln bringen möchte, sollte erst einmal lernen, wie man ein Spiel leitet, bevor er die Duftkerzen auspackt und den Gatsby nachspricht.
Dazu gehört auch zu verstehen, dass wirkliche Angst nicht aus dem entsteht, was die Charaktere erleben, sondern aus dem, was die Spieler erleben. Ein Pokerspiel ohne echtes Geld macht auch keinen Sinn, Der Reiz kommt dadurch, dass man etwas verlieren kann. Das Risiko treibt den Puls und setzt Adrenalin im Körper frei. Nicht ne tolle Lampe, ein besonders weiches Filz oder edle Chips.
Genau das gilt auch für das Rollenspiel. Egal in welchem Genre, Cthulhu bildet keine Ausnahme. Die Spieler müssen Angst haben, etwas verlieren zu können. Dann klappt es auch mit dem Grusel.
Also lerne mal SPIELzuleiten und wenn du das drauf hast, kannste dir nen Hut aufsetzen und 20er-Jahre-Slang sprechen.
Bearbeitet von Synapscape, 03. November 2014 - 10:24 .