Danke, dass du es auch noch mal so sachlich wie dir möglich zusammengefasst hast.
Ich hab erst überlegt, ob ich jetzt Abschnitt für Abschnitt zitieren soll, und deine Überspitzung der beschriebenen Fehler des Systems durch die korrekten (deutschen) Regeln nochmal relativieren und ganz vereinzelt korrigieren soll. Aber ich kam zu dem Schluss, dass das kaum sinnvoll ist. Es wäre keine hilfreiche Reaktion in der Diskussion. Vielmehr habe ich erneut und nochmals deutlich verstanden, wie groß die Unterschiede sein können, das gleiche Rollenspiel zu spielen. Und das ist der eigentliche Kern des Problems.
Zusammengefasst ist deine gesamte Kritik zutreffend. Die aufgezeigten Fehler sind hier und da im Detail nicht ganz korrekt und werden durch die Überspitzung nicht korrekt dargestellt, aber in der Sache ist deine Kritik im wesentlichen komplett zutreffend. Daher spare ich mir das Auseinandernehmen.
Jetzt kommst du aber zu dem Fazit: Unspielbar, Spaßlos, Katastrophal missraten, nichts daran ist gelungen. Und ich komme zu einem anderen Ergebnis. Trotz der von dir aufgezeigten Probleme und obwohl ich dir bei deiner Kritik zustimme. Und ich glaube genau das ist der Kern des Problems vieler Diskussionen, die auch wir schon im Forum oder im Chat hatten. Ein Kern, den man unmöglich auflösen kann. Denn er hat damit zu tun, wie man Rollenspiele spielt.
Die Art wie deine Kritik aufgebaut ist, lässt mich darin die für SR schon immer stark verbreitete Gamification Variante erkennen lassen. Dabei liest man sich die Regeln zum System durch, und versucht innerhalb dieser Regeln zuerst einen Charakter zu bauen, der nach diesen Regeln möglichst optimal gespielt werden kann, also die Regeln alle bestmöglich nutzen kann. Im Spiel überlegt man dann, wie sich die gegebene Situation mit den vorhandenen Regeln bestmöglich lösen lässt. Dazwischen führt man noch diverse Ingame Dialoge, SL und Spieler beschreiben Handlungen und Umgebung etc. weil man natürlich kein Brettspiel spielt, sondern ein Rollenspiel. Aber immer wenn es dazu kommt, dass ein Charakter etwas "tut", wählt man die passende Regelmechanik aus, auf die der eigene Charakter idealerweise auch genau angepasst ist, und löst mit Hilfe dieser Regelmechanik die Aufgabe um die Beschreibung einer Szene oder eines Handlungsablaufs fortsetzen zu können. Als ich angefangen hab Rollenspiele zu spielen, haben sie alle nach diesem Schema funktioniert und ich habe sie alle nach diesem Schema gespielt. Und auch heute noch, ist das natürlich eine vollkommen legitime und sicherlich spaßbringende Art Rollenspiele zu spielen. Und es gibt auf dem Markt sehr viele Systeme die genau diese Spielweise unterstützen und perfekt damit funktionieren.
Nur Shadowrun 6 ist dafür endgültig (die Entwicklung begann schon mit SR5) nicht mehr geeigent. Und versuche ich Shadowrun 6 nach dieser altbewährten Methode zu spielen, funktioniert es definitiv nicht, und ich stoße auf exakt die Probleme, die due beschreibst. Nicht nur beim Edge-System. Ich stoße immer darauf, weil die Regeln nich für diese Form des Spiels ausgelegt sind. Regeln für diese Spielweise zu erschaffen ist hoch anspruchsvoll und viel komplexer. Man muss sehr viele Dinge beachten, intensive Testspielrunden abwickeln, man muss, wie bei einem Brettspiel, intensiv alle ecken und Kanten und jede Entscheidung mathematisch wie spieltechnisch überprüfen, testen und optimieren. Sehr anspruchvoll, und wenn man sich diese Arbeit macht, kommt dabei ein System heraus, dass wirklich rund ist und funktioniert, wenn man es auf die oben beschriebene Weise spielt. Also von den Regeln aus das Acting bestimmt. Solche Systeme werden scheinbar seltener, besonders in den USA.
Eine vollkommen andere, heute immer mehr in Mode kommende andere Art ist aber die, auf die SR6 auch ausgelegt ist. Nämlich die, dass man einen Charakter möglichst nach den freien eigenen Vorstellungen erschafft, ein eher cineastisches Bild eines Prototypen/Charakters entwickelt und dann dieses Bild / Konzept über die Erschaffung versucht in einen Charakter zu portieren. Ich nenn sie mal im Gegensatz zur "gamification" Variante die "cinematic" Variante. Daher ist auch das Charaktererschaffungskapitel in SR6 nochmal deutlicher so aufgebaut. Auch die Regeln zu den Metas,bzw. die Prio-Tabelle, die jedem der nach der gamificationen-Methode vorgeht sofort die Haare zu Berg stehen lässt, weil es nur ein paar rechnerisch sinnvolle Varianten gibt, wie man die Prioritäten verteilt gibt, weil es quasi "dumm" ist, keinen Meta zu wählen, wenn man das derart schlecht gebalanced vorgelegt bekommt... Nur mal als konkretes Beispiel. Dabei fällt das dem "Cinematic" Spieler das gar nicht auf, denn er hat sich schon viele Schritt vor der Auswahl der Prioritäten und des Metas überlegt, wie sein Char grob aufgebaut ist. Es muss auf jedenfall ein Norm sein, und der soll möglichst vielseitig aufgestellt sein. Daher sind natürlich Attribute und Fertigkeiten weit oben in der Priorität, und der Metatyp erstmal weniger wichtig... etc. Die Überlegungen sind vollkommen anders. Nicht möglichst effektive Nutzung der vorhandenen Mechanik sondern möglichst hohe Flexibilität und wenig Benachteiligung durch diese ist die Prämisse. Daher wird die Meta-Auswahl in SR6 auch irrelevanter gemacht. So soll der Metatyp weniger entscheidend für das Konzept sein und ein Troll-Magier oder ein Troll-Face jetzt eben auch funktionieren, ohne ganz krasse Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, oder den Char derart durch maximale Regelkenntnis minmaxen zu können, dass dabei doch was spielbares bei rum kommt. Der Nachteil ist klar, Wer rechnen kann und vorher rechnet und sich darauf basierend was baut, der kann dies maximal ausnutzen.
Genauso sehe ich auch das Edge-System. Wer sich damit regeltechnisch auseinander setzt, der stellt sehr schnell fest, wie krass unbalanced es ist. So unbalanced, dass wenn ich meinen Charakter Werte-technisch voll drauf auslege, und rechnerisch immer die effektivsten Boosts und Effekte nutze, so krass abgehe, dass mir das System keinen Spaß macht, weil es zu albern schlecht gemacht ist und das überhaupt nicht bedacht hat. Sieht man das Edge-System aber als ein eine Ansamlung von Optionen, die ich nicht permanent taktisch optimal nutze, sondern eher situationsbedingt, aus meiner Beschreibung heraus betrachte, welcher Teil davon, jetzt gerade hilfreich wäre, und das was ich vor habe oder vor hatte, am Besten unterstützen kann, bzw. verhindert, dass ich dabei abkacke, dann funktioniert es. Wenn ich vielleicht nur in der einen Szene, in der ich sowieso gerade beschrieben habe, wie ich aus der Deckung heraus springe, Rambomäßig laut brüllend vollautomatisch alle verbleibenden Gegner aufs Korn nehme, und mir dafür von einem Mitspieler noch das eine fehlende Edge traden lassen um dann in diesem Moment übertrieben glänzen zu können, dann funktoniert dieser Edge-Move richtig gut. Plane ich aber bereits zu Beginn des Kampfes ein, dass ich jetzt noch ein Edge brauche um mit nur einem Angriff maximal möglichen Schaden auszuteilen, und dann in dieser Runde noch zwei Edge brauche und dann noch ein Edge vom Decker, der grad nix tun kann noch ein Edge getradet brauche um alles was dann noch steht in der zweiten Runde umlegen zu können, dann wirkt die Mechanik beschissen gebalanced und dumm. Und das ist der große Unterschied der beiden Spielweisen. Während ich einmal die Regeln relativ ignoriere und eher aus der Situation heraus beschreibe wie ich mich verhalte und dann die Regeln verwende, oder mir vom SL sagen lasse, die das gerade am besten umsetzen können, was mir vorschwebt, ist der gamification Ansatz eher der, dass ich mich perfekt mit den Regeln auseinandersetze und dann dem SL vorgebe, welche Regeln ich jetzt gerade wie nutzen werde um in der Situation bestmöglich und rechnerisch optimal das beste aus meinem Char raushole.
Und nein, ich versuche wirklich nicht das alte "Powergaming böse und doof" Thema zu umschreiben. Ich will wirklich zwei grundlegend unterschiedliche Spielweisen von Rollenspielen aufzeigen. Ein Punkt ist allerdings, und das ist wichtig, dass der cinematic Spielstil voll kompatibel zu gamification Regelwerken ist. Allerdings der gamification Ansatz bei Regeln, die nur auf den cinematic Spielstil ausgelegt sind zu maximal reduzierten Spielspaß führen und eben zu vernichtenden Urteilen, wie deinem kommen. Regelsysteme sind dann definitiv mies und faul umgesetzt und strotzen nur so vor Fehlern, daran ist absolut nichts richtig und es funktioniert einfach nicht. Völlig nachvollziehbare und definitiv korrekte Bewertung, aber eben nur aus Sicht eines Rollenspielers mit dieser Brille.
Während der cinematic-Spieler sich das gar nicht frägt, und auch gar nicht als so kritisch wahrnimmt, bis er mit einem "gamification" Spieler am gleichen Tisch sitzt und so der Streit vorprogrammiert ist. Ich finde daher auch, dass es korrekt ist, wenn man daraus schließt, Regelsysteme die beide Spielweisen unterstützten sind die besseren und die Autoren haben sich bei diesen Systemem mehr Arbeit damit gemacht. Das stimmt so.
Was ich aber anders sehe, und das ist der entscheidende Punkt, ist die Wertung, dass deshalb das eine System kein Spaß macht und unspielbar ist, außer man will die Wahrheit einfach nicht erkennen. (Gaslighting anyone?) Diese Meinung teile ich nicht. Cinematic Rollenspiel macht ebenfalls Spaß, und die Regeln müssen für diesen Ansatz und Spielstil eben nicht so ausgefeilt und ausgetestet sein. Man muss sich weniger Arbeit mit dem Balancing beim Erstellen der Regeln machen. Man kann sich ganz auf Aspekte wie "das wäre doch cool" und "das könnte Spaß machen" beschränken. Ja, das macht weniger Arbeit und ja, darüber schütteln Spieler der gamification Fraktion nur den Kopf. Aber deshalb muss man nicht dumm und blind sein um an dieser anderen Sichtweise und diesem anderen Spielstil freude für das gemeinsame Hobby zu haben.
Und das ist es tatsächlich, was mich an deinen Ausführungen oft stört oder triggert, Richter. Deine Betrachtung, dass nur deine Sicht der Dinge richtig sein kann, und jeder, der das nicht erkennt, offensichtlich keine Ahnung hat, ein Fanboy ist und die Augen vor der Wahrheit verschließt, und dir unmöglich weismachen kann, dass du im Unrecht bist. Es geht gar nicht darum, dass deine Argumente nicht zutreffen, sondern darum, dass sie für mich keine große Relevanz bei der Beurteilung haben, ob das Spaß macht oder nicht, ob es funktioniert oder nicht. Du spielst das Spiel einfach komplett anders als ich es mittlerweile spiele. Und nur das ist der springende Punkt. Anders ist neutral, weder abwertend noch aufwertend. Das zu tolerieren wäre von dir auch ein feiner Zug und könnte viel Aggression aus der Disskussion nehmen, und zeigen, dass du auch andere Sichtweisen zumindest bemüht bist zu verstehen.
Ich gebe aber zu, dass ich vor 10 Jahren es sicher nicht wirklich anders gesehen hätte als du heute. Damit will ich nicht sagen, dass du altmodisch bist und ich mit der Zeit gegangen bin. Nur mein Umgang mit Rollenspielregeln und meine Spielweise von Rollenspielen hat sich einfach stark geändert. Auch weil ich in der Vergangenheit immer häufiger Systeme gespielt habe, die genau diesen Aspekt haben, nämlich aus Brettspielregelsicht komplett unbalanced und mies zu sein, aber aus einer cinematic / rein narrativen Spielweise heraus viel Spaß zu machen. Und nein, eine cinematic / narrative Spielweise macht eben keinen Spaß, wenn man gänzlich auf Regeln verzichtet. Diese Spielweise braucht auch gemeinsam vereinbarte Regeln. Der Spielspaß ergibt sich auch durch Nutzen der Regeln, und einfach erfinden und beliebig ein Ereingnis entscheiden ist etwas vollkommen anderes, als in einem cinematic lastigen Spielsytem zu spielen.
Davon abgesehen, hätte ich es im Sinne der vielen alteingesessenen SR-Spieler, unter denen mit Sicherheit eine Mehrheit eher tickt wie du, was die Spielweise von Rollenspielen angeht, viel schöner und besser gefunden, wenn CGL ein System entwickelt hätte, dass eben sowohl als auch funktioniert. Also für beide Lager eine Option gewesen wäre. Das ist definitiv eine verpasste Chance. Die Gründe dafür, dürften genauso sein wie du es bewertest. Ein Chefentwickler, der offensichtlich aus dem Lager "cinematic" Rollenspieler ist, und kein Verständnis für andere Spielmethoden hat, und gleichzeitig mangelnde Ressourcen um ein System sauber und fehlerfrei auf die Beine zu stellen und sauber zu testen. Und zwar von mehreren Spielertypen und für mehrere Spielstile. Das ist definitiv niederen Absichten zu verdanken. Also der möglichst schnell möglichst viel Geld mit möglichst wenig Aufwand zu machen. Deshalb ist SR6 auch aus der Brille eines mittlerweile stark cinematic orientierten Spielers und SLs eine Ansammlung von vielen Fehlern. Und es ist gut, dass so viele konstruktiv dabei mithelfen, diese aus der Welt zu schaffen.
Deinen Kritikansatz allerdings, der wird nicht funktionieren, weil SR6 definitiv ein auf "cinematic" Spieler ausgelegtes System bleiben wird und daher vollkommen inkompatibel zu deinem und dem Spielstil vieler anderer SR-Veteranen sein wird. Aber für Spieler mit cinematic Rollenspiel Ansatz, kann draus zusammen mit Pegasus ein sehr brauchbares System werden, mit dem "wir" viel Spaß haben können. Und auch in der aktuellen Version hatte ich bereits ohne große Hausregelanpassungen viel Freude, trotz der offensichtlichen noch vorhandenen Fehler und Unklarheiten, an denen noch seitens Pegasus in "Zusammenarbeit mit CGL" gearbeitet wird.
Bearbeitet von HeadCrash, 10. Dezember 2019 - 15:54 .